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Mittwoch, 3. Oktober 2012

Zur Globalisierung



Die Globalisierung ist die Herausforderung unserer Zeit. Wie können wir sie lebbar gestalten?



 
Unter Globalisierung wird die zunehmende Verflechtung des politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens auf unserem Planeten Erde verstanden.(1) Die Globalisierung wird an durch die Internationalen Verbände und Institutionen deutlich. Der UNO gehören alle Nationalstaaten außer dreien an. Die FIFA hat Fußballverbände aus allen Ländern als Mitglied. Die Fußballweltmeisterschaft wird rund um den Globus verfolgt. Das Olympische Komitee lädt alle Länder zu den großen sportlichen Feiern ein. UNICEF und UNESCO kümmern sich um die Kinder und die Bildung in der gesamten Welt. Die WHO verfolgt die Gesundheit der Weltbevölkerung. Die ILO sorgt sich um die Arbeiter rund um den Globus. Dem IMF geht es um die Finanzentwicklung in dieser Welt, in der auch die Weltbank mitmischt.  
Dabei rücken auch die Menschen in unserer Welt immer näher zusammen. Es gibt viele zwischenmenschliche Beziehungen rund um den Globus. Die Menschen hören überall die gleiche Musik und sehen die gleichen Filme. Sie flirten weltumspannend in Chatrooms miteinander. Moderne Komunikations- und Verkehrsmittel haben die Entfernungen für Handel und Geschäfte schrumpfen lassen. Es ist nichts besonderes, dass man in der deutschen Stadt Frankfurt, in einem niederländischen Kaufhaus, eine aus brasilianischer Baumwolle hergestellte, in Taiwan genähte, amerikanische Markenjeans mit europäischen Geld bei einer iranischen Verkäuferin erwerben kann. Die Firma Rittal aus dem Dorf Dietzhölztal hat ihre Niederlassungen rund um den Globus verteilt. Nach einer schlecht geschlafenen Nacht hat das Flugzeug uns nach São Paulo, Tokio oder Bombay gebracht. Mittels Internet stöbern Studenten gleichzeitig in den Forschungsarbeiten der Universitäten von Oxford, Jale, Moskau und Johannesburg herum. Fernsehkanäle wie CNN und MTV sind rund um den Globus zu empfangen. Die Erde ist global miteinander verbunden. In einem bayrischen Dorf werden die gleichen Soaps gesehen, wie in den Favelas von Rio de Janeiro oder in den Flats von Manhattan.
Wenn man diese kulturellen Erscheinungen ansieht, hat man den Eindruck, dass sich eine Weltkultur entwickelt, die alles vereint. „McWord“(2) ist Teil einer jeden Esskultur geworden. Bernd Wagner stellt fest: Durch die Globalisierung von Ökonomie und Kommunikation entsteht zunehmend eine weltweite Kultur ohne nationale Schranken mit universellen Bilderwelten und gleichen Mustern vor allem von Popularkultur.(3) Das ganz normale Leben eines jeden Menschen hat heute eine globale Dimension. Dieses ist, egal ob man es gut oder schlecht findet, ein Fakt. Das gilt genauso für den deutschen Geschäftsmann, wie für den afrikanischen Bauer, für den pferdezüchtenden Tataren und den Samba tanzenden Brasilianer. Der Kontext, auf dem sich das menschliche Leben des 21. Jahrhunderts abspielt, ist die globale Bühne.
Die Globalisierung ist eine Tatsache, der wir ins Auge sehen müssen. Es geht nicht darum, ob man für oder gegen die Globalisierung ist. Sie geschieht einfach. Seit den großen europäischen Entdeckungsfahrten zu Beginn der Neuzeit ist die Globalisierung ein fortschreitender Prozess. Im Verlauf der Jahrhunderte haben sich Länder vereinigt und Staatenbünde sind entstanden, sodass nach dem 2. Weltkrieg nur noch zwei große politische Blöcke gab. Durch den Zusammenbruch des sozialistischen Imperiums vor 20 Jahren, gibt es keine zwei rivalisierenden Machtblöcke mehr. Seit dem geht es in der Welt um Einheit und wer nun hierbei das globale Sagen hat. Die Welt ist in diese Situation unvorbereitet hinein gestolpert. Die wirtschaftlichen Konsequenzen hat man nicht absehen können. Peter Graber von der Deutschen Bank beschreibt dieses so:
Vor fünfzehn Jahren gab es zwei isolierte Planeten die sich um die Sonnen drehten. Der eine hatte drei große kapitalreiche Regionen – Europa die Vereinigten Staaten und Japan – und eine Peripherie von kleinen Staaten in denen mehr oder weniger Vollbeschäftigung existierte und wo durch gesunde Wechselkurse eine Mobilität des Kapitals herrschte. Der andere Planet war die kommunistisch, sozialistische Welt, die einen großen Haufen an Arbeit mit falscher Planung und Zuteilung und mit wertlosen Kapital hatte. Und plötzlich wurden beide in eine einzige große globale Marktwirtschaft gezwängt. Das hat ein System mit einer massiven globalen Arbeitslosigkeit geschaffen.(4)

Dieser plötzliche Zusammenschluss der Welt zu einem einheitlichen Wirtschaftssystem nach amerikanischem Muster hat für alle Länder weiter gehende Folgen. Dazu nimmt die World Commisssion on the Social Dimension of Globalization in ihrem Bericht Stellung:
Durch neue, von offeneren Politiken gestützte Technologien ist eine Welt entstanden, die enger denn je verflochten ist. Das bewirkt nicht nur eine wachsende Interdependenz im Bereich der Wirtschaftsbeziehungen – Handel Investitionen, Finanzen und die weltweite Organisation der Produktion -, sondern auch die soziale und politische Interaktion von Organisationen und Einzelpersonen in aller Welt. Die möglichen positiven Auswirkungen sind immens.(5)
 Doch gleichzeitig wird ein enormes Konfliktpotenzial deutlich. Die Uno muss bekennen:
Die Welt, gezwängt in ein ökologisches, finanzielles, kommerzielles und elektronisches System, war niemals so entzweit wie heute in Hinblick auf Macht Reichtum, Einfluss und Zugang zu Informationen und Gütern. ... Die Realität der sogenannten Echtzeit-Kommunikation, die Möglichkeit ohne Zeitverzögerung weltweit zu kommunizieren und grenzenloser Gemeinschaft hat zugleich die tiefe Kluft, ja sogar Diskriminierung sichtbar gemacht, die in enger territorialen Nachbarschaft koexistieren.(6)
Schon seit jeher war es so: An der Spitze jeder sozialen Ordnung entstand großer Reichtum. Diese Realität wird auch in der jetzigen Zeit deutlich.(7)  Dort wo die Macht ist, konzentriert sich Reichtum oder in der Antithese, der Machtlose ist arm. Jean Baudrillard hat diese Art Globalisierung scharf kritisiert. Es ist besonders die Gewalt und die menschenverachtende Art und Weise wie sie sich gestaltet, welche er kritisiert. In einem Interview mit dem Spiegel äußerte er sich so:
Globalisierung beruht, wie früher der Kolonialismus, auf einer ungeheuren Gewalt. Sie schafft mehr Opfer als Nutznießer, auch wenn die westliche Welt mehrheitlich davon profitiert. ... Sie wird angepriesen wie der Endpunkt der Aufklärung, die Auflösung aller Widersprüche. In Wirklichkeit verwandelt sie alles in einen verhandelbaren, bezahlbaren Tauschwert. Dieser Prozess ist extrem gewaltsam, denn er zielt auf eine Vereinheitlichung als Idealzustand ab, in dem alles Einzigartige, jede Singularität, mithin auch jede andere Kultur und letztlich jeder nichtmonetäre Wert aufgehoben würden(8).

Die Ethik der wirtschaftlichen Globalisierung
In der Globalisierung liegt eine großes Potenzial für eine Verbesserung der Lebensbedingungen. Dabei ist jedoch die Grundfrage nach welchen ethischen Prinzipien der Prozess durchgeführt wird. Eine globale Wirtschaft, die ihren Machtkampf, ohne Spielregeln in der Arena der freien Marktwirtschaft austrägt, führt unweigerlich zu einer weltweiten Misere. Deshalb fordert die World Commisssion on the Social Dimension of Globalization eine Korrektur des derzeitigen Globalisierungspfades(9). Sie glaubt, dass die globale Marktwirtschaft, richtig gelenkt einen beispiellosen materiellen Fortschritt bewirken, produktivere und bessere Arbeitsplätze für alle schaffen und einen wichtigen Beitrag zur Verringerung der Armut in der Welt leisten kann.(10) Dabei geht es um die Frage, wer aber den globalen Verschmelzungsprozess lenkt und wer die Spielregeln bestimmt.
Leider sind die sozialen Verhältnisse in dieser Welt sehr ungerecht. Es gibt keine Chancengleichheit. In der globalisierten Welt mit seinen komplexen wirtschaftlichen Problemen ist eine Solidargemeinschaft der Menschheit eine Utopie. Die Gelder für Entwicklungshilfe wurden in der Zeit von 1995 bis 2000 um 25% gekürzt. Als Folge der Finanzkrise werden die Hilfen weiter zurückgefahren. 1960 war das BIP pro Kopf  der zwanzig reichsten Länder 18 mal so viel, wie das der zwanzig ärmsten Länder. 1995 erreichte der Unterschied das 37fache. Weltweit litten im Jahr 2000 insgesamt 826 Millionen Menschen an Hunger. Davon leben aber nur 8 Millionen in so genannten westlichen Industrieländern.(11) Seit 10 Jahren nimmt der Hunger trotz aller Anstrengungen zu. Heute sind es über eine Milliarde.(12) Weltweit sind 1/3 der drei Milliarden Personen im  erwerbstätigen Alter arbeitslos oder unterbeschäftigt. Mehr als 500 Millionen  Beschäftigte verdienen weniger als 1 US$ pro Tag.(13) Diese Fakten zeigen die soziale Spannung der Globalisierung auf. Die World Commisssion on the Social Dimension of Globalization stellt fest:
Der derzeitige Prozess der Globalisierung führt zu unausgewogenen Ergebnissen, innerhalb von Ländern, ebenso zwischen ihnen. Zwar wird Reichtum geschaffen, aber zu viele Länder und Menschen können nicht davon profitieren. ... Viele leben im Niemandsland der informellen Wirtschaft ohne formelle Rechte in einer Reihe armer Länder, die am Rande der Weltwirtschaft ums nackte Überleben kämpfen.(14)

Durch die Globalisierung der Kommunikation werden Informationen über die soziale Ungerechtigkeit gleichzeitig überall verbreitet. Dadurch entsteht ein tiefes Bewusstsein des Ungleichen. Der reiche Mensch aus den westlichen Industrieländern wird als der Besitzende gesehen. Das Gefühl der Ungerechtigkeit provoziert Zorn. Dieser verwandelt sich leicht in Groll und Hass. Die logische Konsequenz ist der bewaffnete Kampf gegen die Ausbeuter. In der Meinung vieler, hat dieser Ausbeuter in der USA als führende Weltmacht, einen konkreten Namen. Ebenso wird Europa als Ausbeuter wahrgenommen.
Jean Baudrillard behauptet, dass der Terrorismus der muslimischen Welt seine Wurzeln darin hat. Die vom Westen als Paradies verkündigte Demokratie wird, wenn sie verabsolutiert und mit Gewalt durchgesetzt wird, zur Zerstörung ihrer selbst. So sagt Baudrillard: Es ist völlig unmöglich, dass es dagegen keine gewalttätige Reaktion gibt. Der Terrorismus entsteht, wenn keine andere Gegenwehr mehr möglich erscheint. Das System empfindet objektiv alles als terroristisch, was sich ihm entgegenstellt.(15) So behaupten nun auch Norman Stone: Nur die Armee garantiert den säkularen, liberalen Staat.(16) Damit wird deutlich, dass die Globalisierung, wie sie wirtschaftlich vorangetrieben wird, nicht auf Freiwilligkeit sondern auf Gewalt basiert. Es handelt sich um einen Krieg, einen Wirtschaftskrieg. Jeder Krieg hat Opfer. Es gibt keinen guten oder berechtigten Krieg. Der Wirtschaftswissenschaftler Peter Neuling erklärt, dass die Ursache der meisten Kriege um des erwarteten ökonomischen Vorteils willen geführt werden.(17) 

Die moderne Völkerwanderung
Die mit der Globalisierung verbundenen Verschiebungen der Wirtschaftsstandorte hat zur größten Bewegung der Menschheit geführt. Migration und Immigration ist in allen Ländern eine Realität. Mobilität ist da Markenzeichen der heutigen Menschheit. Die räumliche Beweglichkeit der Menschen ist das was die Globalisierung fordert. Dort wo es Arbeit und Gewinne gibt, da ziehen die Menschen hin. Dieses geschieht innerhalb der Landesgrenzen genauso, wie zwischen den Nationen. In Brasilien sind von 1986 – 1966 neun Millionen Menschen von einem Estado (Bundesland) zu einem anderen gezogen. In den Jahren von 1991 bis 1996 waren es über 1,1 Millionen Menschen, die allein in den Estado São Paulo(18) gezogen sind. Von den Menschen, die 1999 in der Region Centro-Oeste wohnten waren es 54%, die nicht in dieser Region geboren waren.(19)
Die Bewegung der Bevölkerung ist keine Spezialität Brasiliens. In China allein spricht man von einer Zahl von 150 Millionen Arbeitsmigranten.(20) Überall auf der Welt sind die Menschen in unterwegs, wechseln den Wohnort und passen sich dann wieder neu irgendwo ein. In Deutschland leben heute fast 2 Millionen Türken. Insgesamt hat Deutschland eine ausländische Bevölkerung von 7 348 000 Menschen.(21) Im Jahr 2002 zogen 842 543 Menschen aus dem Ausland nach Deutschland. Im gleichen Zeitraum verließen 623 255 Menschen unser Land.(22) Im Jahr 2000 haben die deutschen Städte und Gemeinden 2 531 255 Zuzüge und 2 450 594 Wegzüge registriert.(23)
Von 1991 – 2000 sind 9 095 000 Menschen in die USA offiziell immigriert. Dazu rechnet die US Regierung mit  mehr als 7 Millionen illegale Einwanderer.(24) In der Schweiz lebten im Jahr 2000 insgesamt 7 164 000 Menschen, davon waren 5 758 000 Schweizer. Die Ausländische Bevölkerung betrug 1 406 000 Personen. Das heißt, das jede 5 Person, die in der Schweiz wohnt, ein Ausländer ist.(25) In Deutschland sind ca. 19,4% der Bevölkerung Menschen mit Migrantionshintergrund.(26)
Viele dieser Bewegungen sind freiwillig. Jedoch geschehen die meisten Umzüge aus einem ökonomischen Druck heraus. Die zunehmende Verarmung breiter Volksmassen und die damit zusammenhängende Bedrohung des Lebensstandards  ist wahrscheinlich die größte Motivation für die Bewegung der Menschen. Dazu kommen die vielen Kriege und Konflikte. Die Welt ist voller Flüchtlingen. Jeder 300. Mensch ist heute ein Flüchtling. Am 1.Januar 2003 hatte die UNHCR 20 556 781 Flüchtlinge erfasst(27). Davon leben ca. 4,5 Millionen in Lagern.(28) Weltweit laufen zur Zeit über eine Million Asylanträge.(29) Diese Zahl und auch die Tragik ist größer, als nach dem 2. Weltkrieg ca. 18 Millionen Deutsche ihre Heimat verloren.(30) In den meisten Fällen gibt es keine Perspektive für ein neues Zuhause.
Diese Zahlen sind der Beleg, dass die Menschen in Bewegung sind. Es ist egal wo wir hinschauen. In Russland, in Indien, in England oder den Vereinigten Staaten, überall wechseln Menschen den Wohnort. Die Germanische Völkerwanderung zur Zeit der Spätantike war, gemessen an der Größe der jetzigen Bevölkerungsbewegungen, nur eine Lappalie. Wenn wir aber in die Geschichte hinein schauen, können wir die großen Veränderung der Welt durch die geschichtliche Völkerwanderung feststellen. Das Weströmische Reich brach zusammen. Durch die Begegnung der Römer und der Germanen entstand eine neue Kultur. Die Zeit der Antike endete und das Mittelalter begann. Ebenso stehen wir heute in einer radikalen Veränderung der Kultur.
Die Bewegung der Völker führt zu einer Veränderung des Lebensraums und der Lebensbedingungen. Es ist ja nicht so, dass der Platz wohin sich die Menschen bewegen leer ist. Überall gibt es bereits Menschen und Völker, Kulturen und Gewohnheiten. Wie auch damals, geht die aktuelle Verschiebung der Völker nicht ohne Leid ab. Konflikte sind eine logische Folge. 

Die Fremdheit als Folge der Globalisierung
Fremd ist eigentlich kein Adjektiv. Dinge und Personen sind nicht an sich fremd. Fremdheit ist die Beschreibung eines Beziehungsverhältnisses. So nimmt Julia Kristeva die Aussage „Fremde sind wir selbst“ zum Titel ihrer Studie der psychoanalytischen Sicht von Fremdheit.(31) Fremdheit ist eine Beziehungserfahrung. Es ist ein Gefühl der Unsicherheit, des Unbekannten, des Exotischen, eben des Fremden. Die Begegnung mit dem Anderen, dem Fremden, stellt immer die eigene Person und Position in Frage. Wenn etwas fremd ist, dann ist es nicht automatisch negativ oder positiv. Das Fremde hat eine gewisse Attraktion. Die Faszination des Fremden füllt die Kassen der Reisebüros. Sie ist die Quelle des Abenteuers, ohne welches das Leben zur langweiligen Monotonie werden würde.
Von vielen Menschen wird Fremdheit jedoch als Bedrohung empfunden. Das nicht Heimliche und das nicht Vertraute wird als un-heimlich empfunden und mit Un-vertrauen angesehen. Angst und Misstrauen haben noch nie eine konstruktive menschliche Gemeinschaft aufgebaut. So haben viele blutige Konflikte ihre Ursache in der erfahrenen Fremdheit. Das Andere wird als Gefahr wahrgenommen, nur weil es Fremd ist. Kofi Annan bringt dieses Phänomen in dem Vorwort zu der UNO Publikation „Brücken für die Zukunft“, damit auf den Punkt, indem   er das Werk den Unschuldigen widmet, deren einzige Schuld darin bestand, dass sie anders waren als ihre Mörder:
Menschen, die ihr Leben in Furcht vor anderen Kulturen verbringen und diese kein Verständnis haben, neigen eher zu Taten des Hasses, der Gewalt und der Vernichtung gegen einen vermeintlichen Feind.(32)
Durch die Weltumspannende Migration ist die Fremdheit zur täglichen Erfahrung von jedermann geworden. Der Migrant durchläuft Gefühlketten von Einsamkeit und Angst, von Ablehnung und Bedrohung, von Verzweiflung und Hass. Wenn John Denver über die Einsamkeit des Fremden singt und dann verzweifelt fragt: Is there no one with a smile for me, no one with a hello in their eyes? Is there no one who will loves me and help me through the dark and lonely night?,(33) dann drückt er das Empfinden vieler Migranten aus. Fremdheit ist das Gefühl des “nicht dazu gehörends“. Das Fremde ist das Unbekannte. Erol Yldiz erklärt so:
Fremdheit an sich gibt es nicht. Fremdheit ist keine Eigenschaft von Dingen oder Menschen, sondern beschreibt eine Beziehung zwischen ihnen., die sich in einer Vielfalt von Gefühlen, Vorstellungen, Situationen äußert. Das Gefühl von Fremdheit gehört zum Alltag eines jeden Menschen, und doch kann es irritieren und sogar Angst erzeugen.(34)
Dem Fremden, dem Unbekannten zu begegnen ist, die Erfahrung des menschlichen Daseins. Philipp Hauenstein beschreibt die Spannung wie folgt:
Das „Eigene“ wie auch das „Fremde“ ist durchaus ambivalent. Das eigene vertraute ist berechenbar und gibt Sicherheit. Auf der anderen Seite engt es auch ein und kann die Luft zum Atmen nehmen. Das „Fremde“ dagegen stellt Eigenes in Frage, verunsichert und bedroht. Gleichzeitig weckt es jedoch auch Neugier. Es lockt mit neuen, bisher unbekannten Möglichkeiten des Erlebens.(35)
Das Leben gestaltet sich in der Wechselwirkung von Geborgenheit und Wagnis. Diese Spannung ist eine grundlegende menschliche Erfahrung und ist die Antriebskraft der Kreativität. Das Kleinkind erlebt die Welt als eine ständige Begegnung mit dem Unbekannten. Die Begegnung mit dem Unbekannten, dem Fremden, wird als Abenteuer, als Wagnis erlebt. Das Bedürfnis zum Wagnis ist Bestandteil der menschlichen Lernfähigkeit. Das kreative Wagnis aber geschieht aus dem Bewusstsein der emotionalen Sicherheit heraus. Nach Larry Crabb ist der Selbstwert von dem Gefühl der Geborgenheit abhängig.(36) Verliert der Mensch seine Geborgenheit, empfindet er existenzielle Bedrohung. Dieses wird als Stresse erlebt. Die kulturelle Anpassung, der Weg vom Fremden zum Vertrautem, beschreibt Myron Loss als einen Prozess von Verletzbarkeit in der Desorientierung und dem Erleiden vieler emotionaler Stürme.(37) Ohne Geborgenheit wird dem Menschen die Begegnung mit dem Fremden nicht zur kreativen Stimulierung, sondern zur beängstigenden Bedrohung und damit zur Blockade. 
Durch negative Erfahrungen in der Vergangenheit entwickelt der Mensch sein Sicherheitsbedürfnis. Abenteuertrieb und Sicherheitsbedürfnis stehen im Gegensatz zueinander. Ein Mensch, der ohne Liebe und Geborgenheit aufwächst, erfährt den Anderen oft als Bedrohung. Er erleidet das Gefühl von Minderwertigkeit und entwickelt ein starkes Geltungsbedürfnis. Menschen ohne die innere Geborgenheit, ohne den inneren Frieden, sind ruhelos und verbreiten so Unruhe. Von Angst bestimmte Menschen sind krank und machen andere krank.(38)
Der Fremde erlebt auch die Fremde als Heimatlosigkeit oder Verlorenheit. Ein Mensch ohne eine Heimat hat keine Wurzeln. Ihm fehlt die Geborgenheit des Vertrauten. Friedrich Nietzsche schreit das Empfinden des Fremden hinaus mit dem Satz „weh dem der keine Heimat hat.“(39) Diese Verlorenheit treibt den Menschen zu einer intensiven Suche nach festen Bezugspunkten. Deswegen neigen Immigranten im neuen Umfeld auch dazu, in der Erinnerung einer gloriosen Heimat zu leben. Das Negative verblasst und zurück bleibt eine romantische Sehnsucht nach einer verloren heilen Welt. Der Türke wird in Deutschland dann türkischer als in der Türkei und der Deutsche in Brasilien deutscher als in Deutschland.
Die Kinder dieser Immigranten jedoch haben es unendlich schwerer. Eines dieser drückt es so aus: Wir haben keine Heimat, nur unsere Gedanken. Unseren Eltern bleibt die Sehnsucht, uns nicht einmal das.(40) Die Internationale Begegnung hat eine Unzahl dieser zwischen den Kulturen zerrissenen Menschen hervor gebracht. Das von der unbestimmten Sehnsucht nach einer nicht erfahrenen Heimat gequälte Third Culture Kid (TCK)(41) ist in unseren Schulen keine Ausnahme mehr.
Die durch die Globalisierung verursachte Nähe des „Fremden“ stellt das „Eigene“ in Frage. Diese grundsätzliche psychologische Bedrohung löst bei vielen Menschen Angst aus. Filme aus Hollywood werden im arabischen Umfeld gezeigt und untergraben die moslemische Kultur. Die Darstellung anderer Strukturen, Lebensprinzipien und Formen sind automatisch eine Rückfrage an die eigene Lebenssituation. Die Begegnung mit dem Fremden provoziert deshalb bei vielen Menschen einen Identifikationsverlust. Interkulturelle Erfahrungen wirken sich auf die unterschiedlichen Komponenten der Menschlichen Identität aus. Das Selbstbild, die Selbstwertgefühle und die Überzeugung, das eigene Handeln steuern zu können kommen in Krise.(42) Das Eintauchen in eine fremde Kultur führt zu Irritationen im zwischenmenschlichen Bereich, aber auch zu einer tiefen Verunsicherung der eigenen Person.(43) Diese Erfahrung wird Kulturschock genannt.(44)
Es ist die, aus der interkulturellen Begegnung erwachsenen Verunsicherung provozierte Angst, welche dann oft direkt in die scheinbare Sicherheit des kulturellen Fundamentalismus führt. So entstehen Ghettos der Migranten und Ausländer. Dort wahren sie eine Illusion einer ihr gehörigen Welt, mit eigener Sprache, eigenen Gebräuchen, eigenen Gesetzen und einer eigenen Gerichtsbarkeit. Dieser Reflex ist immer wieder zu beobachten. Das Festhalten an der traditionellen Kultur ist keine Hilfe zur Existenzbewältigung in der völlig anderen Daseinssituation. Es ist auch unmöglich die Ursprungskultur zu erhalten, sondern diese durchläuft in der Auseinandersetzung mit der Gastkultur eine ständige Veränderung. Dieser Verlust wird als reales Leiden erlebt.
Es ist aber nicht nur der Migrant, der Fremdheit erlebt, sondern auch der bodenständige im festen Umfeld verwurzelte Mensch. Sein zugezogener Nachbar ist so anders. Der Fremde über den Gartenzaun, der die Sprache so schlecht spricht, der sich anders kleidet, der die Kinder anders erzieht, ist Grund für Verunsicherung. Alles Fremde kann Angst machen. So kommt es häufig zu einer Ausgrenzung der Zuwanderer und treibt diese immer weiter in die Isolierung und Fremdartigkeit hinein. Fremdheit wird nicht durch physische Nähe und dem wahrnehmen des Anderen überwunden. Fremdheit verwandelt sich nur durch interaktive Beziehung in Vertrautheit. Das geschieht durch die Begegnung von Mensch zu Mensch. Deswegen ist die Integration nicht institutionell machbar. Institutionelle staatliche Bemühungen sind in der Regel gescheitert. Diese können höchsten eine Basis zur Begegnung schaffen, aber niemals die zwischenmenschliche Begegnung ersetzen.


1 Frank Kürschner-Pelkmann, Die globale Krise – eine Krise der Globalisierung, im Jahrbuch Mission 1999 Glaube und Globalität (Missionshilfe Verlag, Hamburg: 1999)51
2 Dieser Begriff wurde von Benjamin Barber durch den Titel seines Buches Jihad versus McWorld geprägt. Benjamin Barber, Jihad vs. McWorld. How Globalism and Tribalism are Reshaping The World. (Ballantine Books, New York: 1995)
3 Bernd Wagner, Hrg., Kulturelle Globalisierung – Zwischen Weltkultur und kultureller Fragmentierung (Klartext Verlag, Essen:2001)11
4 Peter Garber im IMF Economic Forum, Living with private capital flows veröffentlich im IMF Survey, Volume 32, Nr. 22 vom 15. 12.2003, (International Monetary Fund, Washington D.C.)368
5 World Commisssion on the Social Dimension of Globalization A Fair Globalization: Creating Opportunities for All (ILO Publications, Geneva: 2004) Synopsis des Berichts auf Deutsch S.2
6 Giandomenico Picco u.A., Brücken für die Zukunft – Eine Initiative von Kofi Annan, deutsche Ausgabe durch die Stiftung für Entwicklung und Frieden, (S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.:2001)20
7 Richard Sennett, Die Kultur des neuen Kapitalismus (BvT, Berlin: 2007)107
8 Baudrillard, Jean mit Romain Leick, Interview: Das ist der vierte Weltkrieg in: Spiegel. November 30, 2002.
9 World Commisssion on the Social Dimension of Globalization A Fair Globalization: Creating Opportunities for All (ILO Publications, Geneva: 2004) Synopsis des Berichts auf Deutsch S.1
10 World Commisssion on the Social Dimension of Globalization A Fair Globalization: Creating Opportunities for All (ILO Publications, Geneva: 2004) Synopsis des Berichts auf Deutsch S.3
11 World Commisssion on the Social Dimension of Globalization, Facts and Figures on Globalization (ILO Publications, Geneva: 4. August 2002)
12 Nach dem WHI (Welt Hunger Index) Bonn, Washington D. C., Dublin Oktober 2009,  http://www.welthungerhilfe.de/fileadmin/media/pdf/WHI/Welthunger-Index-2009.pdf
13 ILO Beschäftigungsbericht 2001 in ILO-Nachrichten 1-2001, (ILO-Vertretung, Bonn)1
14 World Commisssion on the Social Dimension of Globalization A Fair Globalization: Creating Opportunities for All (ILO Publications, Geneva: 2004) Synopsis des Berichts auf Deutsch S.3
15 Baudrillard, Jean mit Romain Leick, Interview: Das ist der vierte Weltkrieg in: Spiegel. November 30, 2002.
16 Norman Stone, Wer der Türkei an den Kragen will in Frankfurter Allgemeine Zeitung. November 22, 2003
17 Peter Neuling, Die acht Wohlstandsgesetze (Amaletha Signum Verlag, Wien: 2007)147
18 Der „Estado de São Paulo“ ist mit 36 350 000 das bevölkerungsreichste  Bundesland de Brasilianischen Föderativen Republik. Es darf nicht mit seiner gleichnamigen Hauptstadt verwechselt werden.
19 Editora Abril, Almanaque Abril – Brasil 2001 (Editora Abril, São Paulo: 2001)116
20 Günter Schucher,  Chinas neues Arbeitsvertragsgesetz – Stärkung der Schwachen oder nur Beruhigungspille? in China aktuell 4/2006, Seite 59; GIGA Institute of Asian Studies (GIGA Institut für Asien-Studien) Hamburg
21 Die Angaben entsprechen dem Stand vom 31.12.2002, Quelle Statistisches Bundesamt Deutschland, 2004, Webseite  destatis.de/cgi-bin ,Tabelle: Bevölkerung nach Geschlecht und Staatsangehörigkeit.
22 Quelle Statistisches Bundesamt Deutschland, 2004, Webseite destatis.de/cgi-bin , Tabelle: Räumliche Bevölkerungsbewegungen (Wanderungen) zwischen Deutschland und dem Ausland Stand: 1.10.2003
23 Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2002, Wanderungen über Gemeindegrenzen nach der Staatsangehörigkeit.
24 U.S. Census Bureau, Statistical Abstract of the United States: 2003, Population, Tabelle No.5 und 7  
25 Eidgenossenschaft Schweiz, Bundesamt für Statistik, Neuchatel
26 Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Migrationsbericht 2007, 6.2, http://www.bamf.de/cln_092/SharedDocs/Anlagen/DE/Migration/Publikationen/Forschung/Migrationsberichte/migrationsbericht-2007,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/migrationsbericht-2007.pdf
27 Unhcr Veröffentlichung,  Nachrichten vom 24.April 2004,  http://www.unhcr.ch/cgi-bin/texis/vtx/statistics (UNHCR, Genf: 2004) The Office of the United Nations High Commissioner for Refugees (Unhcr) was established on December 14, 1950 by the United Nations General Assembly.
28 Unhcr Veröffentlichung, Executive Committee, 17. meeting EC/50?SC/CRP.10 (UNHCR, Genf:2000)2
29 Unhcr Veröffentlichung, Refugees by numbers - edition 2003 (UNHCR, Genf: 2003)10
30 Hermann Kinder, Werner Hilgermann, Hrsg., dtv-Atlas zur Weltgeschichte – Karten und chronlogischer Abriss 23. Aufl. 1989 (dtv, München: 1989)221
31 Julia Kristeva, Fremde sind wir selbst (Suhrkamp, Frankfurt a.M.: 1990)
32 Giandomenico Picco u.A., Brücken für die Zukunft – Eine Initiative von Kofi Annan, deutsche Ausgabe durch die Stiftung für Entwicklung und Frieden, (S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M.:2001)11
33 Verfasser unbekannt No one Lyriks, auf der Musik CD John Denver, foreever, John (BMG Entertainment: 1998) hit 6
34 Erol Yildez, Fremdheit und Integration (Domino BLT, Bergisch Gladbach: 1999)52
35 Philipp Hauenstein, Mittendrin – und doch am Rande (Erlanger Verlag für Mission und Ökumene, Erlangen: 2002) 28
36 Lawrence J. Crabb, Die Last des anderen (Brunnenverlag, Basel Giessen: 1977)57
37 Myron Loss, Culture Shock (Ligth and Life Press, Winona Lake:1883)47
38 Wolfgang Schmidtbauer, Lebensgefühl Angst (Herder, Freiburg, Basel, Wien: 2005)17ff
39 Friedrich Wilhelm Nietzsche, Vereinsamt (1887)
40 C. Hernando, Wo liegt unsere Sehnsucht,  in F. Biondi et. Al. Hrsg., Zwischen Fabrik und Bahnhof, (Con Edition, Bremen: 1981)162
41 David E. Pollock, Ruth van Reken, und Georg Pflüger, Third Culture Kids: Aufwachsen in mehreren Kulturen 
42 Astrid Erll, Marion Gymnich, Interkulturelle Kompetenzen (Klett, Stuttgart:2007)64
43 Annekatrin Hoppe, So war ich nicht, so bin ich nicht! Vom Einfluss des kulturellen Umfelds auf die eigene Identität in Dagmar Kumbier, Friedemann Schulz von Thun, Interkulturelle Kommunikation: Methoden Modelle, Beispiele (Rowohlt, Reinbeck b. Hamburg: 2006)175
44 Astrid Erll, Marion Gymnich, Interkulturelle Kompetenzen (Klett, Stuttgart:2007)67-69

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