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Montag, 8. Oktober 2012

Urbanisierung und Mission



Die Verstädterung der Welt
Die heutige Welt ist die Welt der Städte. Bereits heute lebt die Mehrheit der Menschheit in Städten. Damit sind die urbanen Zentren zur größten Herausforderung für die missionarische Arbeit im 21. Jahrhundert geworden. Die Metropolen sind die Orte der vom Evangelium Unerreichten. In den Städten ist Reichtum und Armut, Wohlstand und Misere auf engsten Raum miteinander verquickt. Die Welt von heute ist nicht ohne die riesigen Ballungszentren zu denken.
Zu Beginn der modernen Missionsbewegung vor 200 Jahren war die Welt ein fast ausschließlich ländlicher Planet. Seitdem hat eine massive Urbanisation eingesetzt (Zimmermann 2000: 13f). Wir leben heute auf einem Planeten der Megastädte. Die erste Megastadt Peking hat im Jahre 1770 die Millionen-Marke überquert. London und New York folgten um 1900. Hochrechnungen der Vereinten Nationen für das Jahr 2015 sprechen von 21 Megastädten mit wenigstens 10 Millionen Menschen. Es wird geschätzt, dass um 2050 bereits 80% der Weltbevölkerung in Metropolen leben wird (Stetter 2004). Bereits heute gibt es über 400 Millionenstädte mit einer Bevölkerung von mehr als 1,8 Milliarden Menschen (Reifler 2005: 527).
Städte sind die Zentren der Wirtschaft, der Politik, der Kultur, der Macht und des Lebens überhaupt geworden (Sassen 1997: 37f). Sie sind aber auch gleichzeitig die Stätten der Gewalt, der Verzweiflung, des Elends, des Hungers, der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und des Todes (Bakke: 27f). Bettler, Stadtstreicher, Straßenkinder und Jugendcliquen gehören in der Regel zur Großstadtkulisse (Breckner 1993: 15). Die Vermassung führt gleichzeitig zur Vereinsamung vieler, so dass die Stadtbewohner wenig gemein haben und in einer Anonymität und Ignoranz nebeneinander leben. (Korff 1996: 320). Der Verlust der kulturellen Bindungen und der einheitlichen ethischen Maßstäbe hat weltweit mit einer starken Säkularisierung gepaart (Cox 1966), zu einer informellen pluralistischen Spiritualisierung geführt (Grünberg 2001: 13f).
In der Stadt erreichen die Kirchen nur eine geringe Zahl von Personen (Liedhegener 1997: 23). Deutsches konservatives Christentum hat seine Basis in der Dorfkultur. Die Realität der Entkirchlichung zeigt, dass es in Deutschland nicht gelungen ist, das Evangelium von Christus relevant in den Städten zu verkündigen (Höhn 1999: 48). Die „Kirche ist im Dorf geblieben“ und das Christentum atmet Dorfluft (Kehrer 1991: 51). Wenn es nicht gelingt, den missionarischen Auftrag unter den Menschen der Stadt durchzuführen, wird die Kirche in ihrem großen Auftrag scheitern (Bakke 1990: 41).
Die meisten evangelikalen deutschen Missionare sind in Dörfern und Kleinstädten aufgewachsen. Um einen effektiven und relevanten Dienst in der Welt zu tun, müssen sie in der Lage sein, die Stadt und ihre Bewohner zu verstehen (Conn 2001: 23-29).

Statistische Daten zur Urbanisierung(1)

Urbanisierung der Welt in % nach Kontinenten

1950
1960
1970
1980
1990
2000
2005

2010
2020
2030
Welt
29,5
32,9
36
39,2
43,2
47,1
49,3

51,3
55,9
60,8
Afrika
14,9
18,6
23,2
27,5
31,9
37,1
39,7

42,4
47,8
53,5
Asien
16,6
19,8
22,7
26,3
31,9
37,1
39,9

42,7
48,5
54,5
Europa
51,2
56,7
62,9
68,6
71,5
72,7
73,3

74,2
76,6
79,9
Lat. Amerika
41,9
49,3
57,4
64,9
71,1
75,5
77,6

79,4
82,3
84,6
Nd. Amerika
63,9
69,9
73,8
73,9
75,4
79,1
80,8

82,3
84,8
86,9
Ozenanien
60,6
65,9
70,6
71,1
70,1
72,7
73,3

73,7
74,2
74,9
(Quelle: United Nations 2001)

Das Beispiel Sao Paulo
Um die erlebte Realität der Urbanisierung der Welt darzustellen möchte ich nun das Beispiel von Sao Paulo, Brasilien aufgreifen. Sao Paulo ist heute die größte und wichtigste Stadt Südamerikas und damit gehört sie zu den mächtigsten Metropolen unserer Erde (Sassen 2000: 17). Sie wurde 1554 von dem Jesuitenpater José Anchieta gegründet. Auf einer klimatisch günstigen Hochterrasse 800 m über dem Meer gelegen, wurde Sao Paulo zum wichtigsten Ausgangspunkt zur Erschließung des brasilianischen Inlands. Die wirtschaftliche Bedeutung Sao Paulos begann mit dem Kaffeehandel zum Ende des 19.Jahrhunderts. Das Wachstum war dann schnell und in den letzten 40 Jahren erschreckend. (Faber 1981: 149-151) In Groß Sao Paulo lebten:  
1900 -      100 000 Menschen
1930 -   1 000 000 Menschen
1960 -   3 000 000 Menschen
1975 - 10 000 000 Menschen
2005 – 22 000 000 Menschen(2)
Als wichtigster Handelsplatz Brasiliens entwickelte sich die Metropole zur Megastadt. Die Nähe zum internationalen Hafen in Santos erschloss Sao Paulo für die Weltmärkte. Das Wachstum hat seine Ursache in dem Angebot vieler und gut bezahlter Arbeitsplätze durch die der Konzentration der Industrie im Großraum Sao Paulos. Die Universität von Sao Paulo (USP) gilt als die beste Lateinamerikas. Während der Industrialisierung Brasiliens war der Standort Sao Paulo wegen den hoch qualifizierten Universitätsabgängern der innovative Motor des Landes. Begünstigt durch das gute und gesunde Klima siedelten Europäer gerne dort. Die Stadt hat alle Angebote an kulturellen Veranstaltungen auf dem höchsten Qualitätsniveau. Das alles gab der Metropole eine Attraktivität die eine hohe Zugwirkung auf die Bevölkerung des Inlandes hat.     
Durch die Industrialisierung der Landwirtschaft wurden viele Arbeitsplätze auf dem Land abgebaut. Tausende Arbeiter der Plantagen verloren durch die Maschinen ihre Existenzgrundlage. Diese Situation schob viele ungelernte Arbeitskräfte in die Städte. Sao Paulo wuchs unkontrolliert durch die innerbrasilianischen Migration. Viele Männer fanden in der Baubrache eine bezahlte Tätigkeit. Andere Menschen waren nicht darauf vorbereitet, in einer hochmodernen Industriestadt eine Existenzgrundlage zu finden. Die Erwartungen der Menschen an die Stadt wurden in vielen Fällen bitter enttäuscht. (Hall 2000:17)
Die soziale Schere klappt weit auseinander. In Brasilien leben die Reichsten 10% mit 47% des BIP – und die Ärmsten 10% leben mit 0.9% des BIP. Es besteht die Gefahr, dass der technische Fortschritt die Kluft zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen nur noch vergrößert (Hall 2000:21). In Lateinamerika liegen 90% der armen Haushalte in urbanen Gebieten. Die Favelas wachsen.
Die Städte Brasiliens haben große Probleme: Jeder 3. Haushalt besteht aus einem Alleinerziehenden, sie haben die größte Mordrate der Welt, es gibt mehr Straßenkinder als in anderen Ländern; Alkoholismus, Drogenmissbrauch und Gewalt in der Familie sind für viele Menschen an der Tagesordnung (Hall 2000:25). Der Kampf des Überlebens hat brutale Formen angenommen. Täglich sterben im Großraum Sao Paulos 36 Menschen durch Gewalt. Neben vielen anderen Problemen ist der sexuelle Missbrauch von 43% der brasilianischen Mädchen ein Faktor, der stark belastet.
Der Verkehr ist ein undurchdringliches Chaos. Kilometerlange Staus machen den Weg zur Arbeitsstelle zu einem zermürbenden Nervenkrieg. Das Benutzen der überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel löst mehr Adrenalinschübe aus, als jedes Videogame. Der Geräuschpegel überfordert die Nerven und die schnell wechselnden grellen Lichter der Reklame lassen die Augen niemals zur Ruhe kommen. Hektik und Stress sind immer präsent.
Die Abgase der Fahrzeuge machen das Atmen schädlicher als das Rauchen. Schreiendes menschliches Elend ist immer sichtbar. Das bettende Kind an der Straßenecke, der im Drogenrausch randalierende Jugendliche, die junge Mutter mit den drei unterernährten Kindern am Rock an der Straßenecke hockt sind Teil des täglichen Szenariums.

Die Fragmentierung der Stadt
Nach Lothar Käser sind Kulturen Strategien zur Daseinsbewältigung (Käser 1997: 37). Sie sind die Voraussetzungen des Überlebens einer ethnischen Einheit. Die Kultur ermöglicht einer ethnischen Einheit durch die Erhaltung des inneren Zusammenhalts das Überleben im Daseinskampf. Nach Wilhelm Mühlmann ist Kultur die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Gesellschaft, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Werteinschätzung. (zitiert bei Thiel 1983:8).
Jede Stadt ist eine Einheit mit einer gewissen Basiskultur. Sprache, Wirtschaft, Gesetze, Regeln, Transport, Unterhaltung, Baustiel, Essensgewohnheiten und vieles andere mehr geben jeder einzelnen Stadt ihr spezielles Gepräge und ihren speziellen Flair. Bei den Tausenden von Städten in dieser Welt ist doch jede einzelne speziell und einzigartig. So unterscheidet sich Hamburg von Frankfurt, Sao Paulo von Istanbul und Paris von Bangkok. Diese tragende Kultur ist die Strategie der Daseinsbewältigung und wird entscheidend geprägt von der vorherrschenden Religion, dem Klima, der politischen Bedeutung und den vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten. Diese Basiskultur hilft den Menschen als Einheit zu Überleben.
Die Globalisierung der Wirtschaft stellt die einzelnen Städte rund um die Welt in einen direkten Konkurrenzkampf zueinander. Städte gewinnen und verlieren dabei. Wie eine Stadt sich nun dabei durchsetzten kann, beeinflusst die Lebensrealität aller ihrer  Bewohner. Der Reichtum einer Stadt und damit der Wohlstand seiner Bürger hängt von ihrer Rolle in der Weltwirtschaft ab. Es gibt privilegierte und unprivilegierte Städte. (Sassen 2000:32) Durch die Verschiebung der Arbeitsplätze verschieben sich auch die Menschen. So ist nun jede Stadt heute multiethnisch.
Die tragende Kultur einer Stadt garantiert deshalb nicht den inneren Zusammenhalt aller in ihr lebenden Menschen. Sie ermöglicht nicht immer das Überleben einzelner Bevölkerungssegmente. Innerhalb der Stadt gibt es privilegierte und unprivilegierte Gruppen (Sassen 2000:32). Deshalb schließen sich die verschiedene Gruppen von Menschen zusammen um spezielle und eigene Strategien der Daseinsbewältigung innerhalb der Gesellschaft zu bilden. Diese Fragmente sind Subkulturen. Rüdiger Korff sagt: Die Städte sind der Ort, wo globale Integration zu lokaler Fragmentierung wird. (Korff 1996: 320) Subkulturen sind innerhalb einer gemeinsamen Basiskultur unterschiedliche Strategien der Daseinsbewältigung. Sie bilden sich in und aus allen sozialen Schichten und Klassen und sind unterschiedlich stark ausgeprägt.
Je größer die Stadt ist, desto wichtiger wird für den einzelnen Menschen die Subkultur. Der Mensch ist ein soziales Wesen und braucht erlebte Zugehörigkeit. Nur in einer überschaubaren Bezugsgruppe, in einem Klan oder Stamm bekommt das Individuum seinen Wert und seine Orientierung. In einer Stadt zerfällt die Bevölkerung in unzählige Subkulturen. Diese Extreme Vielfalt fasziniert und bedroht zugleich. (Grünberg 2001:14)
In der Soziologie wurde der Begriff „Urban Tribes“ geprägt. Je größer eine Stadt ist, desto geringer wird für den einzelnen Menschen die Bedeutung der Basiskultur und die Integration in die Subkultur eine Frage des emotionalen Überlebens. In einer Megastadt wie Sao Paulo, ist Zugehörigkeit zur Subkultur eine Frage der Existenz überhaupt. Karl Homuth erklärt, dass die Pluralisierung von Lebensstilen ein Teil tief greifender Marginalisierungsprozesse ist, weil sie die soziale und individuelle Desintegration verstärkt. (Homuth 1988:140) Korff beschreibt die Herausforderung der Stadt: Das Konfliktpotential der modernen Verstädterung ist ihr Integrationspotential. Konsens, Diskurs und kommunikatives Handeln implizieren selektive lokale, d.h. begrenzte und abgegrenzte Vergemeinschaftungen, die in sich einen fundamentalistischen Keim tragen können. (Korff 1996: 321)
Festzustellen ist, dass in einer Stadt die Bevölkerung in unzählige Subkulturen zerfällt. Geprägt werden diese Gruppen durch ethnische Herkunft, wirtschaftlichen Standart, Bildung, Wirtschafszweigen, Wohngegenden und anderer tausender Faktoren zu denen auch Musikgeschmack, Sport, Sexualverhalten und alles was menschliches Leben ausmacht gehören. Einzelne Menschen können dabei gleichzeitig verschiedenen unterschiedlichen Subkulturen angehören.
Die Subkultur, die konkrete soziale Bezugsgruppe, gehört unweigerlich zur Stadtkultur. Man kann beobachten, dass je größer die Stadt ist, desto kleiner wird die Bezugsgruppe des Einzelnen. Linda Reisch erklärt die Ursache dafür auf Grund der Stadtdefinition: „Die Stadt ist die Siedlungsform, die die Begegnung einander fremder Menschen wahrscheinlich macht.“ mit der Aussage: In er Angst vor dem Fremden wird die Isolation zur Oase. (Reisch 1988:33/34) Eine andere Bezugsgruppe, eine andere Subkultur wird als das Fremde erlebt.
So entstehen auch Randgruppen. Eine Randgruppe ist eine Subkultur, die sich in ihrer Lebensgestaltung außerhalb der von der Basiskultur akzeptierten Standards gestellt hat. 
Mit anderen Worten Randgruppen sind Subkulturen, die von der Mehrheit der tragenden Gesellschaft abgelehnt werden. Randgruppen sind Teil der Bevölkerung. Sie sind integriert und doch ausgestoßen, so wie die organisierte Kriminalität, Prostituierte oder Drogenabhängige. In Urban 21 werden sie wie folgt beschrieben: Sie leben in en Städten, aber gehören nicht wirklich zu ihnen: Sie haben weder gesellschaftlichen Status, noch wirtschaftliche Macht, nur zu oft werden sie von den Behörden schikaniert und als Störfaktor in der Stadt behandelt.  (Hall 2000:33)
Manche Randgruppen stellen sich bewusst gegen die Basiskultur. Dann sprechen wir von Gegenkulturen. Terroristische Vereinigungen sind Gegenkulturen. Ebenso können religiöse Gruppen, die sich bewusst und intentional gegen die vorherrschende Kultur wenden und diese durch eine andere ersetzen wollen, als Gegenkulturen bezeichnet werden. Gegenkulturen können aktiv in einem Verantwortungsbewusstsein für das Ganze in die Basiskultur eingreifen oder passiv eine ghettohafte Lebensform des Rückzugs und der Isolierung in der Ablehnung der Verantwortung für das Ganze ihr Leben gestalten.
Eine jede Stadt produziert Subkulturen, Randgruppen und Gegenkulturen. Wenn man in und mit einer Randgruppe eine Gemeinde zu gründen will ist es notwendig eine spezielle Kulturanalyse zu machen. Das heißt eine spezielle Sprache zu lernen, den Ehrenkodex zu kennen, spezielle Verhaltensmuster zu folgen und den Wertsyntax zu verstehen. 
Wie stellt sich nun in der Stadt die christliche Gemeinde dar? Ist sie Subkultur? - Oder Randgruppe? - Oder Gegenkultur? – oder was? In der postchristlichen Gesellschaft ist die Gemeinschaft der Glaubenden nicht der Träger der Kultur. Bei einer Gemeindegründung in der Stadt geht es auch um die Frage, was sie denn erreichen soll. Will die Gemeinde ein weiterer Faktor der Fragmentierung oder ein Platz der Integration sein? Soll sie Sub- oder  Gegenkultur sein, oder legt sie sich bewusst als Randgruppe fest?
Wenn wir nun mit marginalisierten Menschen, eine Gemeinde bauen, besteht die Gefahr eine Gemeinschaft zu bilden, die als eine Gegenkultur im Gettodasein existiert. Eine Randgruppengemeinde besteht aus Menschen, die von der Basiskultur bereits ausgegrenzt werden. Sie ist dann sowohl von der Basiskultur als auch von den anderen Randgruppen isoliert. Damit ist ihr die Chance einer realen missionarischen Präsenz in der Gesellschaft genommen und hat somit die Sendungsaufgabe der Gemeinde Christi preisgegeben. Trotz missionarischer Aktivitäten erreicht sie die Menschen nicht. Sie sieht sich nicht als Rettungskreuzer für die an sich selbst zugrunde gehenden Menschen, sondern als die paradiesische Insel der gestrandeten Geretteten.



1 United Nations Secretariat, Department of Economic and Social Affairs, Population Division, World Urbanization Prospects – The 1999 Revision (United Nations Publication, 2001)
2 Die Werte sind Schätzungen. Dabei sind alle Menschen erfasst, die in der Metropole leben und arbeiten. Manche sind nicht registriert, andere haben einen offiziellen Wohnsitz in einer anderen Stadt. Genaue Zahlen liegen nicht vor.

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