Gott und die Welt
„Ich glaube nicht daran, dass ihr Christen wirklich glaubt, dass
Gott die Menschen liebt! Sonst müsstet ihr anders reden und handeln!“
Die
Problematik unserer Welt ist so komplex, dass der Eindruck entsteht, dass die
Probleme unlösbar sind. Die Nöte und Schwierigkeiten sind unübersehbar.
Menschen leiden. Menschen weinen. Menschen sterben. Viele haben resigniert und
geben sich dem Schicksal widerstandslos hin. Andere rebellieren und wenn sie
schon verzweifelt sterben müssen, nehmen sie lieber andere mit in den Tod.
Dabei ist es egal, ob sie im Selbstmordanschlag oder Amoklauf Schuldige oder
Unschuldige treffen. All das ist der Schrei einer verlorenen und hoffnungslosen
Menschheit. Daher bricht die Frage nach der Zuwendung Gottes zur Welt auf. Hat
Gott diese Welt aufgegeben?
Die Mehrheit
der Menschen in Europa hat sich von den großen Volkskirchen distanziert. Selbst
wenn sie noch offiziell Mitglied sind, spielt die Kirche keine wesentliche
Rolle in ihrem Leben. Die Shell-Jugendstudie 2010 stellt fest, dass Religion in
Deutschland weit im Abseits ist(1). Es existiert kein Vertrauen mehr in die Institution
Kirche. Skandale von Psychoterror und Gewalt, sowie Missbrauch von Macht und
Einfluss haben das Ansehen der Kirche untergraben. Vorwürfe von sexuellen
übergriffen durch Geistliche wirken sich katastrophal gegen die katholische
Kirche aus. Diese negativen Wirkungen verstärken sich noch durch die
Verschleierungstaktiken in der denominationellen Hierarchie.
In den Protestantischen Kirchen sieht das oft noch
schlimmer aus. Nur ein Bruchteil der offiziellen Kirchenmitglieder beteiligt
sich an dem Leben der Kirche. Die von der Aufklärung bestimmte Liberale
Theologie, welche die Existenz Gottes und damit die persönliche Beziehung
zu Gott in Frage stellt, hat dem Evangelium die Kraft genommen. Die erlebbare
Gottesbeziehung, welche durch Christen aller Zeiten bezeugt wurde, war die
Kraft des missionarischen Engagement in Liebe und aufopferungsbereiten Hingabe
an die Menschen. Die Reduzierung des Evangeliums auf ein philosophisches
Konstrukt ohne realen Gottesbezug verwandelt die biblische Botschaft in diabolischer
Tyrannei eines versklavenden Moralismus.
Die Kenosis (gr. κένωσις) Gottes in der Person Jesu von Nazareth ist die
zentrale Aussage des christlichen Evangeliums. Christentum, welches den
lebendigen und auferstanden Christus leugnet und damit sich von dem, sich der
Welt in Liebe zuwendenden Gott distanziert, hat nichts, gar nichts, einer
verzweifelten, nach „Froher Nachricht“, nach Evangelium, lechzenden Menschheit
zu bieten. Paulus konstatierte diesen Selbstbetrug mit der Aussage: Ist aber
Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer
Glaube sinnlos. Wir werden dann auch als falsche Zeugen Gottes entlarvt ... Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist,
dann ist euer Glaube nutzlos ... und wir sind erbärmlicher darn als alle
anderen Menschen! (1Kor 15,14-20)
Mit der Verneinung der göttlichen Intervention in
Zeit und Raum und damit der Erfahrbarkeit Gottes, verliert auch Kirche ihre
heilbringende Substanz. Ohne Anker im transzendetalen Gottesbezug geht sie als
substanzloser Teil in der Welt auf. Sie wird als Heilsinstrument inexistent.
Von verschiedenen liberalen Theologen wird die Säkularisierung ursprünglich
religiöser Inhalte und die Auflösung von „Kirche“ in die Kultur, der „Welt“
oder in das Säkulare hinein als Jesus gemäß angesehen. Statt Licht, das heißt
Orientierung zur Lebensbewältigung und Salz, die lebenserhaltene Kraft, zu
sein, ist die Kirche dabei so weit in der Welt aufgegangen, dass sie selber
Teil und damit Verursacher der gesellschaftlichen Problematik ist. Kirche und
Welt ist so eins, dass sie nicht in der Lage ist, wirkliche Hilfe zu geben. Ja,
Kirche, die ecclesia, die Gemeinschaft der zur Verantwortung
herausgerufenen, weil sie nicht mehr als Herausgerufene existiert, ist somit
aufgelöst.
Auf der anderen Seite ist die Gruppe von Kirchgängern,
auch die Mitglieder der Freikirchen, nicht in der Lage, einen relevanten Bezug
zwischen Frömmigkeit und Alltag herzustellen. Sie bilden exklusive Gemeinschaften der in
Gemeinschaft zu Gott Berufenen. Viele Christen und Christengemeinschaften haben
sich deshalb von dem Rest der Menschheit abgewandt. Sie sehen ihre Gemeinde als
Rettungsburg, in der sie ein Stück heile Welt leben oder als Arche, in der sie
sich vor der Flut des Bösen in Sicherheit bringen. Alle Bestrebungen sind nun
darauf gerichtet, diese Burg zu bauen und gegen störende Einflüsse zu schützen.
Der Bau der Gemeinde, der Rettungsburg, wird somit zur zentralen Aufgabe der
kirchlichen Aktivität. Die kirche, die Gemeinde ist somit nur mit sich selber beschäftigt. Jesus selber hat es sich jedoch selber vorbehalten, der
Erbauer seiner Gemeinde zu sein (Matth 16,18), während seine Nachfolger ihn
bezeugen sollte (Apg 1,8).
Der Erhalt dieser vermeintlichen Rettungsburg wird dann
wichtiger als die Menschen. Die institutionelle Kirche / Gemeinde wird so zum Heiligtum,
welches bewahrt werden muss. Es geht um die Konservierung des Vorhandenen. Die
Theologie wird dadurch stark fundamentalistisch. Da es nicht um die Bewahrung
eines lebendigen Organismus von realen Menschen, die in einer dynamischen
Gemeinschaft leben, geht, haben die einzelnen Personen in sich keinen Wert. In
der logischen Konsequenz kommt es dann leicht zu Machtmissbrauch und seelische
Vergewaltigung der Individuen. Das Kollektiv ist dann wichtiger als die
Menschen die dazu gehören. Mitglieder, Mitarbeiter und auch Leiter werden mit
menschenverachtender Gleichgültigkeit dem Erhalt der Institution geopfert. Das
Überleben der Institution ist dann wichtiger, als das Überleben der Einzelnen. Die
Institution verwandelt sich zum "Unheilbringenden Heilsträger", der niemand mehr
Heil bringt. Damit hat solch eine christliche Gemeinde oder Kirche aufgehört
Kirche Jesus Christi zu sein.
Diese Gruppen sind in der Regel von der Welt so sehr
distanziert, dass keine wirkliche Beziehung zwischen christlicher Gemeinde und Umwelt
besteht. Somit entsteht der Eindruck, dass auch Gott selbst sich nicht um die
Welt kümmert und sich von ihr abgewandt hat, denn auch hier wird Evangelium für
die Welt nicht gelebt. Das Leben in solcher Frömmigkeit ist die
Leugnung der Inkarnation Gottes als Mensch und damit die gelebte Leugnung des
Evangeliums von Jesus Christus. Diese Haltung und dieser Ausdruck verkündigt
den Menschen, dass Gott diese Welt und die Menschen darin, nicht liebt.
Wenn Gott sich nicht um die Welt kümmert, dann gibt es
kein christliches Evangelium. Genau das geschieht, wen die Kenosis und die
Inkarnation Gottes in Jesus von Nazareth philosophisch oder durch Praxis
geleugnet wir. In einer Kommunikation wird das kommuniziert, und zwar nur das, was verstanden wurde. Wenn die Menschen in unserer Gesellschaft nicht verstehen, dass Gott sie liebt, haben wir, die wir verkündigen, ihnen kommuniziert, Gott liebt Euch nicht. Der
Deismus in unserer Welt ist das Resultat der verbalen und gelebten christlichen
Verkündigung. Die leeren Kirchen zeugen davon, dass Gott für die Menschen
irrelevant ist. Damit steht die Christenheit vor der eigentlichen Gottesfrage.
Wer ist Gott? Ist es so? Oder gilt, dass Gott Menschen liebt?
Welches Gottesbild vermittelt die Kirche Christi im 21.
Jahrhundert? Hat er sich, wie es in den animistischen Religionen gelehrt wird, schmollend
zurückgezogen, da die Menschen ihn nicht ehren?(2)
Oder ist Gott von Anfang an, der total andere, wie im Islam der von den
Menschen distanzierte Allmächtige, bei dem es nur eine sklavische Unterwerfung
gibt?(3)
Oder ist er, wie im Hinduismus, so mit der Welt verwoben, dass er selber als
Person nicht existent ist und damit das Sein an sich das Problem ist?(4) Ist Gott nur im Verlangen des Menschen existent, und wenn dieses zur Ruhe
kommt, alles Sein im Nichts, oder wie die Buddhisten es sagen, im Nirwana
aufgehen?(5) Ist er wie Thor, der hammerschwingende Rächer?(6)
Oder ist er gar nicht existent und wir Menschen sind wirklich hoffnungslos
allein, hervorgegangen aus dem zufälligen Lotteriespiel der Evolution, ohne
Sinn und Zweck, uns selbst überlassen in diese Welt geworfen?(7) Oder
hat Gott nun, so wie viele christliche Gemeinschaften es praktizieren, der
bösen und verlorenen Welt den Rücken gekehrt und wartet er nur darauf, ihr das
verursachte Leid apokalyptisch heimzuzahlen?
Diese Fragestellungen erwachsen, wenn wir die Christen
betrachten, das heißt uns die christliche Kirche, einschließlich der
Freikirchen anschauen. Apokalyptische Strafreden, gepaart mit einem tiefen
Desinteresse an dem Ergehen ihrer Mitmenschen, ausgelebt in elitären
Glaubensgemeinschaften(8),
lässt die Liebe Gottes zu den Menschen nicht erkennen. Ein junger Mann sagte mir
einmal: „Ich glaube nicht daran, dass ihr Christen wirklich glaubt, dass
Gott die Menschen liebt! Sonst müsstet ihr anders reden und handeln!“ Leider
komme ich nach 35 Jahren Dienst in Kirchen und Gemeinden zu den gleichen
Schlussfolgerungen. Festzustellen ist, dass die Kirchen in Europa weitgehend
leer sind.(9)
Diese beobachtete Realität verlangt nun nach einer grundlegenden theologischen
und missiologischen Reflektion. Das vermeintliche Wachstum in einer
Gemeinschaft, ist in der Regel durch die Schrumpfung einer anderen Gemeinschaft
verursacht. Gemeindewachstum hat in vielen Fällen seine Ursache nicht in einer
Hinwendung der Menschen zu Gott, sondern in der Abwendung von der vorherigen
Glaubensgemeinschaft.
Biblisches Evangelium ist in seinem Wesen die Zuwendung
Gottes in Liebe zu dieser Welt. Das ist die Mission Gottes, die Missio Deí. Die
Essenz der Frohen Botschaft ist in den Worten des Evangelisten Johannes
zusammengefasst: So sehr liebt Gott die Welt, dass er den einziggeborenen
Sohn gab, damit jeder Glaubende ewiges Leben hat (Joh 3,16). Die Bibel
zeigt auf, dass Gott sich den Menschen nicht entzogen hat. Er hat sich ihnen
zugewandt. Er hat sich selber in die Welt gesandt. Er ist ihr so Nahe getreten,
dass er Mensch wurde. In der Frage nach dem „Warum das so ist“, stellt Johannes
Reimer fest:
Die
einfache Antwort lautet – Gott will die Welt, die er geschaffen hat und liebt,
retten! Seine Liebe zur Welt ist das starke Motiv zur Missio Deí. Es würde
völlig dem Wesen Gottes widersprechen, wenn er die von ihm geschaffene und von
Satan korrumpierte Welt fallen lassen würde. (10)
Diese Zuwendung Gottes zur realen Welt, wie sie sich
uns in ihrer Verlorenheit darstellt, ist
der rote Faden, der sich durch die gesamte Bibel zieht. In der biblische
Botschaft schwingt immer und überall der suchende Ruf Gottes, Adam, wo bist du? (1.Mos
3,9) mit. Die Kenntnis Gottes und seines Wesens, ist Schlüssel zum Heil Gottes
(Joh 17,3). Gott ist Mensch geworden, damit Menschen Gott kennen und lieben
lernen. Daraus erwächst dann die Beziehung zwischen Gott und Mensch, aus welcher die Kraft entspringt,
transformierend das Leben und die Gemeinschaft der Menschen zu prägen. Aus der
Blickrichtung der Selbstsendung Gottes in
unsere Welt, der Missio Deí, versuche ich in dieser Refflektion Theologie zu
betreiben.
1 http://www.shell.de/home/content/deu/aboutshell/media_centre/news_and_media_releases/2010/youth_study_2010.html#email_to_a_friend_container (Eingesehen am 21.9.2010)
2 Philip M. Steyne, Gods of Power ( Touch Publikation,
Houston, 1992)74
3 Eberhard Tröger, Kreuz und Halbmond
(R.Brockhaus, Wuppertal, 1996)18
4 R C Zaehner, Der Hinduismus Seine Geschichte und seine Lehre (Goldmannverlag, München, 1962)53
5 Heinrich Hackmann, Ernst von Waldschmidt, Franz Bernhard, Buddhismus in Die Religionen der Erde III (Goldmannverlag, München, 1966)64
6 Jan de Vries: Altnordisches
Etymologisches Wörterbuch, (Brill,
Leiden, 1962)618
7 Jaques Monod, Zufall und
Notwendigkeit (München, Piper, 1971)
8 Alle christlichen Kirchen oder Gruppen, die sich als alleinseligmachende
Institution versteht, leugnen den alleinseligmachenden Christus. Die
Stellvertretung Christi auf Erden entmachtet den ewigen Christus.
9 Johannes Reimer, Die Welt umarmen (Francke,
Marburg, 2008)14
10 Johannes Reimer, Die Welt umarmen – Theologie
eines gesellschaftsrelevanten Gemeindebaus (Francke Buchhandlung, Marburg:
2009)141
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