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Donnerstag, 15. November 2012

Ist das Christentum in Europa noch zu retten?



Ist das Christentum in Europa noch zu retten?
Wenn wir Christen uns nicht aufmachen und neu denken lernen und dieses in proaktiven Handeln münden lassen, ist der fortschreitende Untergang der Christenheit im „Christlichen Abendland“ unausweichlich. Neudenken ist nötig!
Proaktives Handeln erfordert eine proaktive Zielsetzung. Proaktivität setzt antizipative Haltung und szenarienbasierte Vorüberlegungen voraus[1]. Das erfordert Forschung. Die biblischen Propheten waren Proaktivisten. Sie hatten den realistischen Blick für die Gegenwart und für die zukünftigen Dinge und Entwicklungen. Ihre Botschaft war deshalb direkt und konkret an die Menschen ihrer Tage gerichtet. Die im „Jetzt“ geschehene Handlung bestimmt die Realität des Morgen. Die Zukunft ist immer das Resultat der Vergangenheit. Die proaktive, das heißt die prophetische Aufgabe der Kirche liegt darin, den Menschen heute den Weg zu einer Gesellschaft aufzuzeigen, welche die menschliche Existenz lebenswert macht. Reich Gottes, in dem der Friede Gottes, Jahwes Schalom,  regiert, ist das Ziel.
Daraus stellt sich die Frage, was Auftrag Kirche Gemeinde Jesu Christi, in Europa, ja in der Welt, des 21. Jahrhunderts ist. Der prophetische Auftrag der Missionsarbeit verlangt geplantes Arbeiten. Wenn wir Christen uns nicht aufmachen und neu denken lernen und dieses in proaktiven Handeln münden lassen, ist der fortschreitende Untergang der Christenheit im „Christlichen Abendland“ unausweichlich. Neudenken ist nötig! Wie Albert Einstein sagte: Man kann die Probleme nicht mit den Denkmustern lösen, welche sie verursacht haben.[2] Es heißt also die Welt neu zu sehen und dann bewusst durch das Evangelium zu gestalten.
Die Projektierung einer gewünschten Zukunft ist die Basis für ein aktives und hingebungsvolles Leben. Will man Menschen sehen, die hingebungsvoll leben und lieben, dann muss man ihnen eine Perspektive geben. Niemand kann ohne Hoffnung, wenn er keinen Sinn mehr sieht, leben oder lieben. Fehlende Zukunftsperspektive ist das Ende jeglicher Kreativität.
Das Zentrum des christlichen Glaubens ist, dass Gott diese Welt und die Menschen darin liebt (Joh 3,16). Deshalb hat er sich ihnen zugewandt und ist selber Mensch geworden. Es ist an der Zeit, dass die christliche Kirche sich darauf besinnt und aktiv die Liebe Gottes auslebt. Dieses bedeutet, dass Gemeinde Christi als Gegenkultur sich darauf konzentriert, mit allem was sie ist und tut, Heil Gottes zu verbreiten. Als letztes Ziel zeigt die Bibel eben nicht die grauenvolle Zerstörung der menschlichen Rasse auf, sondern die erfüllte Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch (Offb 21.3). Es ist die Aufgabe der Theologie, angetrieben durch Gottes eigener Sendung, der Missio Deí, ein begeistertes Bild der Zukunft zu schaffen. Mit anderen Worten, „Frohe Botschaft“, das Evangelium, so zu formulieren, dass die Menschen begeistert und hoffnungsvoll sich ihm anvertrauen.
 Das Christentum und damit auch die Kirche, ist in seinem Wesen zukunftsorientiert. Die Eschatologie ist die treibende Kraft der Gemeinde. Die gesamte Bibel atmet prophetischen Geist. Gott ist in seinem Wesen Weisheit und Christus offenbart sich uns als der Logos. Biblisches Handeln ist ein auf ein Ergebnis hin zielendes Handeln. Christliches Handeln ist gestaltendes Handeln. Deshalb kann die in christlichen Kreisen verbreitete Angst vor perspektivischer Planung nur auf theologischen Unverstand basieren. Bereits vor über dreißig Jahre kritisierte Bruno Herm die allgemein übliche Handlungsweise in christlichen Werken. Er stellte fest, dass die meisten christlichen Aktivitäten ohne klare Zielvorgaben geschehen. Wer keine klaren Zielvorgaben hat, kann auch nicht in Frage gestellt werden, wenn er kein Ziel erreicht. Es gilt, dass wer kein Ziel hat, sich nicht zu wundern braucht, wenn er dann irgendwo landet, wo er nicht hinwollte.[3]
Ohne Zielvorgabe zu arbeiten ist nicht produktiv, aber auch nicht kreativ. Es ist einfach Dummheit. Dennoch fällt es vielen Menschen schwer, für gemeindliche oder missionarische Arbeiten Ziele zu setzen. Dieses hat verschiedene Gründe. Für die missionarische Arbeit Zielvorgaben zu erstellen ist schwierig. Im geistlichen Dienst müssen wir immer mit zwei wichtigen Unbekannten rechnen: Erstens ist Gemeindearbeit Gottes Sache. Der Geist weht wo er will (Joh 3:8) und ist nicht manipulierbar. Gott und sein Handeln ist menschlich nicht planbar. Zweitens  wird die Gemeinde von Menschen bestimmt. Menschen jedoch sind nicht konstant. Menschen in den Gemeinden ziehen um, durchlaufen Krisen, werden krank und sterben. Sie sind in ihrer Entscheidung oft nicht kalkulierbar. Zu diesen beiden grundlegenden Faktoren kommen noch weitere schwer zu einzuschätzende Elemente, wie Trends, Gesellschaftsentwicklungen und ähnliches, hinzu.
Systematische Analysen und kritische Erhebungen lösen bei vielen Menschen jedoch Unbehagen und Angst aus Bei vielen evangelikalen Christen erlebe ich eine Panik vor soziologischen Untersuchungen. Um klare Zielvorgaben zu erstellen, ist es aber unumgänglich eine klare Standortsbestimmung vorzunehmen. Wenn jemand irgendwo hin will, muss er sich erst darüber klar werden, wo er eigentlich steht. Dieses geht aber nur durch eine gründliche Untersuchung. Zielvorgaben ohne Zahlen und Zeitraster, das heißt ohne erfassbare Ergebnisse sind nicht hilfreich.
Eine einseitige Fixierung auf Zahlen und Statistiken ist jedoch zu kurz gegriffen. Es geht in der Kirche im Tiefsten um eine ideelle Absicht, welche erreicht werden soll. So sagt Paulus, dass Gott will, dass allen Menschen gerettet werden und sie zu der Erkenntnis der Wahrheit kommen sollen (1Tim 2,4).  Die konkreten Zielvorgaben in der Planung sind die sekundären Maßnahmen, welche die zu erreichenden Absichten konkretisieren. In der Gemeindegründung kann es also nicht darum gehen, dass zig Gemeinden entstehen, sondern, dass Menschen zu Anbetern Gottes werden. Wird diese tiefere Absicht nicht erreicht, dann ist auch das Gründen von 100 neuen Gemeinden eine Fehlinvestition.
Für viele geistliche Mitarbeiter, wie Pastore und Gemeindehelfer, haben Zahlen etwas Abschreckendes. Die Ursache liegt in der tiefen Menschenbezogenheit dieser Mitarbeiter. Es fällt ihnen schwer, auf Grund ihrer Persönlichkeitsstruktur und der empathischen Beziehungen, Menschen in Nummern zu sehen. Ergebnisorientiertes Handeln und empathische Führsorge stehen aber nicht in einem unlösbaren Widerspruch zueinander. Komplementäres gemeinschaftliches Planen und Handeln welches durch eine kollektive Leitung, welche durchgängig das neutestamentliche Modell ist, gesteuert wird, kann zur großen Effizienz führen.
Statistische Untersuchungen stoßen in deutschen christlichen Kreisen oft auf Widerstand. Sprüche wie, „ich glaube nur den Statistiken, die ich selber manipuliert habe“, oder „es gibt Notlügen, Lügen und Statistiken“, sind häufig zu hören.  Argumente wie: Statistiken und Erhebungen haben zu Trugschlüssen geführt, oder Missionsberichte werden zur „Ehre Gottes“ manipuliert, blocken oft systematische Untersuchungen bereits im Vorfeld ab. Als Konsequenz dieser Einstellung sind für systematische missiologische Forschung in der Regel keine Gelder vorhanden.
In den theologischen Ausbildungsstätten sind empirische Untersuchungen und Forschungen kein großes Thema. Die Studenten werden nicht dazu ausgebildet oder angehalten. So ist es auch nicht verwunderlich, dass statistische Erhebungen im kirchlichen Umfeld nur mit großen Schwierigkeiten durchzuführen sind. In den seltensten Fällen beauftragen Missionen, Kirchen oder Gemeindebünde jemanden für eine missiologische Forschungsarbeit. Wenn nun jemand in Eigeninitiative entsprechende Untersuchungen vornimmt, so wird die gegen die Institution vorgebrachte Kritik dann oft als „nicht richtig“ abgetan. Die weit verbreitete Furcht vor dem Eingestehen von Fehlern durch die christlichen Führungskräfte,  ist das alarmierende Zeichen massiven Unglaubens an einen vergebenden Gott.
Vielleicht fragt sich mancher ob es bei solchen Schwierigkeiten überhaupt richtig ist, Zielvorgaben für den geistlichen Dienst zu erstellen. Ich möchte nochmals an die Aussagen Bruno Herms erinnern: Wer kein Ziel hat, braucht sich nicht zu wundern, wenn er plötzlich realisiert, dass er irgendwo angekommen ist, wo er nie hin wollte.[4] Es wäre nicht angebracht die Ziellosigkeit zu kritisieren, wenn unsere jetzige gesellschaftliche und kirchliche oder gemeindlichen Situation zufriedenstellend wäre. Dieses ist aber nicht der Fall.
Um in unseren missionarischen Unternehmungen nicht zu scheitern, ist es notwendig uns klar zu machen, was wir erreichen wollen. Jesus selber unterwies uns zu planen und die Kosten für die Nachfolge zu überschlagen (Lu 14,27-30). Er selber hatte sehr klare Vorstellung über seinen Auftrag, seine Zielsetzung und seinen Dienst (Mk 10:45; Lk 19:10). Paulus hatte klar formulierte Ziele (Rm 15:20). Zielvorgaben und Absichtserklärungen sind demnach kein Zeichen von fehlender Geistesführung. Für Paulus war es normal, seine missionarischen Einsätze zu planen (Apg 16,6-7). Das er in der Ausführung seiner Pläne für die göttliche Leitung offen war, widerspricht nicht dem Planen an sich, sondern ist ein Zeugnis der geistlichen Sensibilität im missionarischen Engagement.
Wenn nun das höchste Gebot der Bibel die Liebe zu Gott und dem Nächsten ist, dann müssen wir uns überlegen, wie das erreicht werden kann. Damit ist wenigstens eine konkrete Zielsetzung christlicher Existenz gegeben. Jeder Mensch auf diesem Globus hat das Recht von der Liebe, die Gott zu ihm hat, zu erfahren. Dieses geschieht durch den Zuspruch in der verbalen Verkündigung und durch die konkrete Zuwendung, im diakonischen Dienst von Mensch zu Mensch. Dadurch wird der Mensch fähig sich anzunehmen und selber zu lieben. Die Erfüllung seiner Bestimmung zur Liebe, kann der Mensch nur dann leben, wenn er sich selbst geliebt weiß. Papst Benedikt drückte dieses als Kardinal Josef Ratzinger so aus:
Sein Ich wird ihm (dem Menschen) nur akzeptabel dadurch, das es zuerst von einem anderen Ich akzeptiert ist. Er kann sich selbst nur lieben, wenn er zuvor von einem anderen geliebt ist. Damit der Mensch sich selbst annehmen kann, muss ihm gesagt sein: Gut, dass du bist – gesagt nicht mit Worten, sondern mit jenem ganzen Akt der Existenz, den wir Liebe nennen.[5]

Liebe basiert auf der persönlichen Beziehung der Individuen. Liebe ist Begegnung, ist Kommunikation. So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die ihm glauben gerettet werden (Joh. 3,16). Gott wurde Mensch. Er ist so in der Inkarnation den Menschen begegnet und will jedem Einzelnen durch Jesusnachfolger begegnen. Das ist christliche Mission. Heute leben ca. 7 Milliarden Menschen auf unserem Planeten. Wie soll diesen allen die Liebe Gottes denn zukommen?  Jeder Mensch braucht dazu die persönliche Zuwendung wenigstens eines Menschen, der ihn liebt. Wenn das unsere Zielsetzung ist, dann müssen wir Kirche und Mission völlig neu und konstruktiv denken und planen lernen.



[2] Albert Einstein, http://www.uni-protokolle.de/foren/viewt/192057,0.html
[3] Bruno Herm, Leiter der Deutschen Missionsgemeinschaft, Oktober 1973, Vorlesungen an der Bibelschule Brake zur Missionsstrategie. Persönliche Mitschrift.
[4] Bruno Herm, Oktober 1973, Vorlesungen an der Bibelschule Brake zur Missionsstrategie. Persönliche Mitschrift.
[5] Josef Ratzinger, Theologische Prinzipienlehre – Bausteine zur Fundamentaltheologie (München: 1982)80

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